Die zehn Grundfreiheiten
 
"Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Magd, Rind, Esel, noch alles, was sein ist."
 
Das waren das neunte und das zehnte Gebot. Pater Naab kommentiert sie nicht ausdrücklich und eigens. Schade eigentlich. Vielleicht waren ihm Begehrlichkeiten aller Art persönlich einfach zu fremd, zu fern.
Es ist halt auch eine sehr andere Welt, aus der die beiden letzten Gebote kommen. Nach dem Eherecht des alten Israel gehörte auch die Frau zum Eigen­tum des Mannes - genauso wie der Knecht oder die Magd, das Rind oder der Esel. Deswegen fällt auch die Frau unter die Schutzgebote Gottes. Der Griff nach dem, was zu einem anderen gehört, ist von Gott verboten.
 
Man mag heute darüber denken, wie man will: wenigstens waren Frauen kein Freiwild männlicher Begehrlichkeit. Gott macht ihren Schutz zu seiner Angelegenheit.
 
Offenbar kommt derlei große Bedeutung zu. Freilich, der Schutz des Eigentums rangiert an letzter Stelle unter den Gesetzen, die Gott erlässt. Die anderen Dinge, die vorher genannt werden, sind schon noch wichtiger.
Denn Eigentum lässt sich ersetzen, aber einen Ermordeten kann man nicht mehr lebendig machen; daher ist noch wichtiger: Du sollst nicht töten!
Oder: eine zerbrochene Ehe ist nur selten wieder zu kitten, und die Wunden bei Scheidungsopfern heilen oft lebenslänglich nicht mehr; deshalb ist noch wichtiger: Du sollst nicht ehebrechen!
Oder: die einmal abgeschnittene Ehre ist nur schwer wiederherzu­stellen, und Rufmord ist oft nicht wieder gut zu machen; deshalb ist noch wichtiger: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten!
 
Der Schutz des Eigentums rangiert an letzter Stelle im Gesetz Gottes.
Aber dennoch: er gehört zu den 10 Grundfreiheiten, die Menschen bleiben müssen, wenn sie Menschen bleiben sollen; der Schutz des Eigentums gehört zu den Schutzmaßnahmen Gottes und hat Gewicht. Menschen sollen etwas haben, damit sie nicht würdelos auf Bittstellen und Betteln angewiesen sind. Das ist auch der urtümliche Sinn des Elternehrungsgebots. Die Alten sollten nicht nur geachtet und respektiert werden, sondern vor allem auch fraglos versorgt. Was die Bibel da fordert, wird auch uns wieder zu schaffen machen. Was künftigen Rentnern prophezeit wird, klingt eher beunruhigend. 
 
Was die Bibel meint: Wer den Menschen ihre materielle Grundlage nimmt, tastet nicht nur ihren Besitz, sondern zutiefst ihre Würde an. Das wurde im Dritten Reich von vielen umnachteten Volksgenossen verdrängt, als man den Juden – reichen, gutbürgerlichen und auch ganz armen – ihr Eigentum wegnahm. Vor den Übergriffen auf das Leben kamen die Übergriffe auf die Habe.
Pater Naab tat Recht daran, an das Recht auf Eigentum zu erinnern. Die 10 Gebote wenden sich freilich nicht nur gegen den Diebstahl, gegen das widerrechtliche Wegnehmen, sondern schon gegen den diebischen Geist. Die Nazis appellierten an niedere Instinkte, Neidgefühle. Und die Parole vom „Volk ohne Raum“ machte die Begehrlichkeit zur Staatsdoktrin.
 
Wo auch nur  e i n  Gebot notorisch verletzt wird, kommt ein Stein ins Rollen, gibt es kein Halten mehr. Eine menschheitsgeschichtliche Erfahrung! Wo Gottes Ehre nichts gilt, wird auch Gottes Ebenbild, der Mensch, beleidigt, wird der Schutz des gottgegebenen Lebens aufgeweicht. Deshalb ist dem Pater die Heilighaltung des göttlichen Namens so wichtig.
Wem Gott heilig ist, der kann nicht von lebensunwertem Leben reden. Eine sprachliche Ungeheuerlichkeit, die dieser Tage wieder aufkommt und gegen die wir unsere Stimme erheben sollten.
 
Die Forderung nach Gewissensfreiheit ist der Schlüssel, um Pater Naab und um die Gebote zu verstehen. Der im Alltag oft vergessene Gott bringt sich uns durch unser Gewissen in Erinnerung. Die Stimme unseres Gewissens spricht uns schuldig oder frei. Diese Stimme erleichtert uns oder bringt uns in Konflikt.
Wer die Stimme des Gewissens zum Verstummen bringen will in den Menschen, der beraubt sie ihrer Menschlichkeit. Wer sie verlockend übertönt oder hasserfüllt niederbrüllt, ist gleich verwerflich.
 
Und: Wer die Menschen verderben will, macht ihnen ein gutes Gewissen bei bösem Tun und bei der Rechtfertigung niedrigster Regungen. Das hat Pater Naab gewusst.

 

(Prof. Dr. Horst Seibert)

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