Kann man den Deutschen trauen?
»Der Schoß ist fruchtbar noch / aus dem das kroch«.
Selbstzweifel und das Misstrauen der Nachbarn haben die
Bundesrepublik bis heute begleitet. Könnte man, 60 Jahre
nach der Befreiung Deutschlands, den alten Verdacht nicht
endlich vergessen?
Nein, meint Jens Jessen:
 
Die Deutschen werden nie wieder einen nationalsozialistischen
Staat haben, gewiss. Über diese Gefahr zu reden lohnt nicht.
Das Nationale wird sich nicht mehr zum Nationalismus
aufblasen. Es ist auch kaum vorstellbar, dass sich der Staat
noch einmal zu einer totalitären Gleichschaltung der
Gesellschaft bewegen lässt. Etwas anderes ist aber die Frage,
wie viel von dem nationalsozialistischen Erbe in den Köpfen
übrig geblieben ist, nachdem es sich aus der Sphäre des
Politischen zurückgezogen hat. Dass diese Frage meistens
empört abgewiesen wird, hat mit der Demokratie zu tun, die
sich fortdauerndes Misstrauen in das Volk nicht leisten kann.
Vor allem aber hat es mit dem überlieferten Verdacht gegen den
Staat zu tun, der traditionell als der Ort gilt, wo das Übel in
Erscheinung treten müsste, wenn es denn erscheint.
Dort sitzt es aber nicht. Die staatlichen Institutionen der
Bundesrepublik sind vielleicht das Einzige, das wirklich und
verlässlich entnazifiziert worden ist. Selbst deutsches Militär
lässt sich nur mehr schlecht beargwöhnen, seit es ein feierliches
Rekrutengelöbnis am Jahrestag des 20. Julis angesetzt hat. Die
Demonstranten, die dagegen protestieren, beweisen nur ihre
ideologische Verblendung, vielleicht auch einen unbewussten
Willen zur Ablenkung von dem Ort, an dem sich das
nationalsozialistische Erbe versteckt.
Es steckt im gereizten Kern der Gesellschaft. Es steckt in den
Aufpassern, den Liebhabern des Verbietens und Strafens, den
hysterischen Beobachtern jeder Abweichung. Es steckt im
autoritären Charakter, wie ihn Erich Fromm beschrieben hat. Es
steckt in dem Nachbarn, der die Kehrwoche kontrolliert, in dem
Passanten, der den Falschparker anzeigt, ohne behindert
worden zu sein, in der Mutter, die anderen Müttern am
Spielplatz Vorhaltungen macht. Es steckt, mit einem Wort, in
dem guten Bürger, der seine eifernde Intoleranz auf Befragen
wahrscheinlich als zivilgesellschaftliches Engagement ausgeben
würde.
Es ist nämlich nicht so, dass die 1945 heimatlos gewordene
Sehnsucht nach der Volksgemeinschaft vor der Unmöglichkeit
ihrer neuerlichen Umsetzung resigniert hätte. Sie hat sich
vielmehr aus der Politik in den privaten Terror zurückgezogen.
Sie inspiziert die Treppenhäuser, sie kontrolliert die Kleidung
des Büronachbarn, sie missbilligt abweichendes
Konsumverhalten und straft jeden Ehrgeiz, der sein Haupt aus
der Menge hebt. Nirgendwo lässt sich das besser beobachten als
in den Massenmedien, die ihrer Natur nach mit
opportunistischer Sensibilität auf die Volksstimmung achten
müssen. Mit peinlicher Sorgfalt wird dort alles vermieden, das
als elitäre Abweichung vom Mainstream interpretiert werden
könnte. Denn der Mainstream ist nur der modische
Tarnausdruck für das gesunde Volksempfinden, das schon in der
Nazizeit als Richterinstanz über jede, vor allem aber
intellektuelle Abweichung diente. Dieser kulturelle Egalitarismus
hat, anders, als manche glauben, seine Wurzeln nicht im
Sozialismus, der stets um die Hebung der Volksbildung bemüht
war. Das Downgrading einer ganzen Hochkultur nach dem
Maßstab des Unterschichtenressentiments ist vielmehr ein
spezifisches Merkmal des Nationalsozialismus.
Gewiss gibt es Intoleranz, Sozialneid und verwahrloste
Massenmedien auch in anderen Ländern. Aber dieser Hinweis
täuscht nur darüber hinweg, dass Intoleranz in Italien nicht zu
Rostocker Exzessen führt, Sozialneid in England nicht zur
Abschaffung der Hochkultur aufruft und Massenmedien in
Frankreich nicht dazu neigen, Intellektuelle als Nörgler
vorzuführen. Übrigens hat auch die hierzulande beliebte Razzia
auf die intellektuellen Pessimisten ihren Vorläufer im
Nationalsozialismus und in Goebbels Kampagne gegen »das
sogenannte Miesmachertum«.
Der historische Zusammenhang von Antiintellektualismus und
Antisemitismus ist gut untersucht. Beide treffen sich im Hass
auf alle natur- und volksferne Betätigung. Vielleicht würde es
sich auch heute lohnen, um den sozialpsychologischen Ort des
anhaltenden Antisemitismus zu finden, nach dem Sitz der
antiintellektuellen Ressentiments fahnden. Vielleicht ließe sich
so erklären, warum Antisemiten nicht nur in der Nähe von
Hirschhornknöpfen, sondern auch in Vorstandsetagen auftreten,
nämlich überall dort, wo sich hemdsärmelige Macher vor
kritischer Dreinrede fürchten. Denn die Verehrung des Machens
und Anpackens, der Darwinismus der Tat, der im Denken nur
das Zögern, im Zweifeln nur die Feigheit erkennt, ist eines der
dauerhaft nachwirkenden Motive aus dem Fundus
nationalsozialistischer Propaganda. Das darwinistische
Argument vom Recht des Stärkeren, und sei es in der
Geschäftskonkurrenz des Marktes, ist überhaupt eines der
zuverlässigsten Indizien auf Wiederbetätigung im Sinne des
»Dritten Reiches«.
Mag jeder für sich prüfen, wie oft ihm solche Gedankenfiguren
untergekommen sind, und dann entscheiden, ob den Deutschen
zu trauen ist. Gewiss sind es größtenteils nur noch
Spurenelemente der NS-Ideologie. Es gibt keinen Grund, die
Deutschen ernsthaft zu fürchten. Aber sorglosen Gewissens
unter ihnen leben kann man auch wieder nicht.
Jens Jessen, geboren 1955 in Berlin, leitet das Feuilleton der
ZEIT. Sein Großvater Jens Peter Jessen wurde für seine
Beteiligung an dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 in
Plötzensee hingerichtet
(c) DIE ZEIT 04.05.2005 Nr.19

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